Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger!
Warum macht ihr das eigentlich noch? Wen interessiert das noch, was ihr da treibt? Was hat das noch für einen Sinn?
Das werde ich manchmal gefragt, wenn ich mich so vehement dafür einsetze, dass wir das Anliegen des Volkstrauertages nicht vergessen, sondern beherzigen.
Ja, warum machen wir das heute hier?
Es geht gewisslich nicht darum, die Leistung deutscher Soldaten zu würdigen. Auch diesen völlig abwegigen Gedanken musste ich mir an einem Volkstrauertag schon anhören.
Hitler hat gleichsam die Welt überfallen, um sie auszuplündern. Was gäbe es daran also zu würdigen?
Nein, es geht darum, dass wir das Leid nicht vergessen, das unzählige Menschen durch Krieg und Gewaltherrschaft erfahren mussten.
Noch gibt es Menschen, die wissen, was gewesen ist – und dies nicht nur aus den Geschichtsbüchern. Noch gibt es Menschen, deren Lebenshaltung und Einstellung davon geprägt ist, dass sich das, was zwischen 1933 und 1945 gewesen ist, niemals wiederholen darf.
Dieses Wissen muss weitergetragen werden. Über das WIE können wir meinetwegen diskutieren. Über das DASS aber niemals.
Mein persönliches Lebensgefühl ist noch stark geprägt von dem, was Eltern und Großeltern mir erzählt haben.
Ich werde nie vergessen, wie meine Eltern mir als kleinem Jungen mal erzählt haben, dass sie versuchen mussten, von Kartoffelschalen satt zu werden, weil es nichts anderes zu essen gab.
Ich werde nie vergessen, wie mein Vater erzählte, welch großartiges Erlebnis es für ihn war, dass ihm damals jemand einen Kopf Salat zu essen gab.
Ich werde nie vergessen, wie meinen Großvater zu jedem Weihnachtsfest seine Erinnerungen an Stalingrad übermannten. Er war dort als Feldarzt in Gefangenschaft geraten und erst 1949 heimgekehrt.
Die Erinnerungen an das Leid – sie prägten auch die außenpolitischen Bemühungen der großen Bundeskanzler Willi Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Und das war gut so.
Unsere jungen Menschen wissen nichts mehr davon. Was meine Generation noch geprägt hat, ist ihnen mittlerweile fern. Wenn sie zu mir in den kirchlichen Unterricht kommen, haben sie davon noch nichts gehört.
Deshalb führt einer meiner ersten Wege mit diesen jungen Menschen hier her zum Kriegerdenkmal, wo all die Namen aufgeschrieben sind der Meckenheimer, die aus dem Krieg nicht heimkehrten.
Vielleicht kann ihnen dies eine Ahnung vermitteln von dem, was Krieg bedeutet.
Wichtig ist auch, dass wir uns erinnern, wie es zu diesem Leid kam.
- Es ist ja nicht vom Himmel gefallen.
- Und es wurde auch nicht vom lieben Gott geschickt.
Es kam durch das, was Menschen dachten, redeten und taten. Und es kam auch durch die bösartigen Gefühle, die in immer mehr Menschen die Oberhand gewannen.
Vor dieser Gefahr warnt uns Jesus in seiner Bergpredigt. Jesus gibt uns zu verstehen: Achtet auf eure Gefühle und Gedanken. Achtet auf das, was ihr redet. Denn aus all dem werden am Ende die bösen Taten und unzählige Grausamkeiten.
Und vergessen wir nicht: Hitler hat sich nicht an die Macht geputscht. Er wurde trotz seiner kriminellen Vergangenheit demokratisch gewählt und schließlich durch den Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.
Das war dann allerdings das Ende der Demokratie und das Ende jedes offenen und freien Gedankens in Deutschland.
Aber Diktatur hat ja auch etwas Verführerisches. Diktatur „flutscht“. Demokratie hingegen ist mühselig und langwierig, weil man auch die anderen hören muss und nicht einfach machen kann, was man will. So ließen sich viele Menschen von Hitlers ersten Erfolgen verführen.
Auch bekannte geistige Widerstandskämpfer, die heute geachtet und geehrt werden, gingen Hitler und dem Nationalsozialismus zunächst auf den Leim.
Der berühmte Pfarrer Niemöller war einer von ihnen. Aber auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl.
Aus heutiger Sicht kann man sagen: Damals konnte man sich verirren – wie diese Beispiele zeigen.
Doch heute haben wir das Wissen der Geschichte.
Wer heute demokratiefeindlichen radikalen Parteien seine Stimme und seine Gefolgschaft gibt, der weiß was er tut.
Wer sich heute völkischen und überzogenen nationalen Ideologien hingibt, der weiß, was er tut.
Bereits die Geschichte verurteilt solche Menschen. Aber sie werden das, was sie tun, nicht nur vor dem Gericht der Geschichte verantworten müssen, sondern auch vor dem Gericht Gottes.
Wir erleben es heute erneut, dass Freiheit ein Gut ist,
- um das wir kämpfen müssen,
- für das wir einstehen müssen.
Es zeigt sich, dass wir dieses Gut nicht nur aus einer bequemen Komfortzone heraus konsumieren können.
Auch dies ist eine Botschaft, die wir den jungen Menschen von heute schuldig sind.
Wir können dies heute noch als freie Menschen tun. An einem Tag wie heute denken wir aber auch an Menschen, die dies unter anderen Bedingungen tun mussten.
Es herrschte totale Unterdrückung. Jeder Gedanke an Freiheit war verboten. Die Atmosphäre war beklemmend und bedrückend.
Denn Denken war verboten. Das Denken für das deutsche Volk hatte der Führer übernommen. Wer dem nicht folgte, war an Leib und Leben bedroht.
Am 9. Mai 2021 jährte sich der Geburtstag von Sophie Scholl zum hundertsten Mal. Sophie Scholl und ihr Bruder Hans sind wohl die bekanntesten Widerständler aus dem Kreis der so genannten „Weißen Rose“.
Sophie und Hans Scholl ließen sich als Jugendliche zunächst vom Nationalsozialismus und dem von ihm propagierten Gemeinschaftsideal begeistern.
Es ging etwas voran in Deutschland – so glaubte man. Und man arbeitete einem höheren Ziel entgegen – so glaubte man, zunächst.
Beide engagierten sich sehr stark in der Hitlerjugend, bis sie merkten, dass sie sich auf einem Irrweg befanden.
Sophie Scholl legte großen Wert auf das Denken. Sie wollte ihr Leben nicht auf irgendwelches Gefühl bauen, sondern auf das Denken. Das unterschied sie sehr stark von ihren Altersgenossinnen und isolierte sie auch ein wenig.
Aber damit kam sie klar. Denn Freundinnen und Freunde, die ähnlich dachten wie sie, gab es durchaus in ihrem Leben.
Sie suchte bisweilen die Einsamkeit.
Sie suchte die Freiheit, in Ruhe zu denken, aber sie suchte auch die Freiheit im Denken und die Freiheit des Denkens.
Und obwohl sie in ihrem Denken eine innere Freiheit fand, die ihr niemand nehmen konnte, wurde ihr der Nationalsozialismus immer mehr zur Zwangsjacke, einer Zwangsjacke, die ihr bisweilen die Luft zum Atmen nahm.
Sehr stark spürte sie dies auch 1941 in ihrer Zeit beim Reichsarbeitsdienst mit seinen primitiven Parolen und seinen Zwängen.
In der Auseinandersetzung mit Kirchenvater Augustin von Hippo und anderen christlichen Denkern fand Sophie Scholl zu einer lebendigen Vertrauensbeziehung zu Jesus Christus.
Mit einer früheren Diakonisse als Mutter war sie durchaus protestantisch erzogen worden. Doch lange Zeit rang sie um ihren Glauben. Gott blieb ihr irgendwie fremd.
Nun aber war Christus wirklich und lebendig in ihrem Leben und bestimmte dieses Leben auch.
Auch Hans Scholl war inzwischen zum lebendigen Glauben an Jesus Christus gekommen.
Beide handelten in ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus diesem Glauben heraus.
Im Juni 1941 begann Hitlers Überfall auf die Sowjetunion.
Ab Juni 1942 verbreitete Hans Scholl zusammen mit anderen aus seinem studentischen Freundeskreis Flugblätter, auf denen an das christliche Gewissen der Deutschen appelliert wurde.
Die Flugblätter riefen unverhohlen zur Überwindung des Nationalsozialismus auf, der als Barbarei entlarvt wurde. Statt Krieg in Europa solle man europäische Zusammenarbeit anstreben.
Der Medizinstudent Hans Scholl war als medizinischer Soldat eine Zeit lang an der Ostfront gewesen. Er hatte – ebenso wie Sophie Scholls Verlobter Fritz Hartnagel – nicht nur das Elend dort gesehen, sondern auch barbarische Verbrechen, die dort verübt wurden.
Es war das klar ausgegebene Ziel Hitlers, die Bevölkerung der Sowjetunion zu vernichten. Hans Scholl und Fritz Hartnagel hatten die Umsetzung dieser Order mitbekommen.
Es war also keineswegs so, dass niemand von irgendetwas gewusst hätte.
Im Januar 1943 tobte die fürchterliche Schlacht um Stalingrad mit ihrem katastrophalen Ausgang für die deutschen Soldaten.
Dies machte die Geschwister Scholl und andere junge Menschen aus ihrem Freundeskreis umso entschlossener, ein weiteres Flugblatt zu veröffentlichen. Was die Nazis verheimlichen wollten, musste die Weiße Rose offenbar machen.
Sie prangerten Hitler und die Partei an, die deutsche Jugend sinnlos und planlos hinzuschlachten. Das Regime müsse gestürzt und zur Rechenschaft gezogen werden.
In Deutschland müsse wieder Freiheit und Ehre einziehen.
Hans und Sophie Scholl wurden bei der Verteilung dieses Flugblattes im Lichthof der Münchner Universität, wo beide studierten, vom Hausmeister erwischt und verhaftet. Dies geschah am 18. Februar 1943. Bereits am 22. Februar wurden die beiden mit dem Fallbeil in München – Stadelheim hingerichtet.
Ihr Studienkollege, der dreifache Familienvater Christoph Probst, wurde als Mitglied der Weißen Rose ebenso erbarmungslos hingerichtet.
Hans und Sophie hatten in Jesus Christus die innere Freiheit gefunden, dass sie diesen Weg ruhig und gefasst gehen konnten.
Zum Freundeskreis um Hans Scholl gehörte auch der gläubige Katholik Willi Graf. Auch er war aus seinem Glauben heraus in den Widerstand der Weißen Rose gegangen.
Ihn hat man später – am 12. Oktober 1943 – hingerichtet, nachdem man einsehen musste, dass man keine Informationen zu weiteren Widerständlern der Weißen Rose aus ihm herauspressen würde.
Zeugen einer besseren Welt in finsterer Zeit!
Es gehört zu unserer Pflicht, die wir heute
- in Freiheit und
- Wohlstand
leben dürfen, dass wir jene Menschen, die auch für uns für ein besseres Deutschland kämpften und starben, dies nicht umsonst taten.
Deshalb dürfen wir nicht vergessen. Deshalb erinnern wir uns. Möge Gott verhindern, dass wir unsere Vergangenheit noch einmal erleben müssen.
Offizielle Totenehrung
Wir denken heute
an die Opfer von Gewalt und Krieg,
an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken
der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,
der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder
danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und
Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten,
einer anderen Rasse zugerechnet wurden,
Teil einer Minderheit waren oder deren Leben
wegen einer Krankheit oder Behinderung
als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie Widerstand
gegen Gewaltherrschaft geleistet haben,
und derer, die den Tod fanden, weil sie an
ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern
um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage,
um die Opfer von Terrorismus und
politischer Verfolgung,
um die Bundeswehrsoldaten und
anderen Einsatzkräfte,
die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer,
die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.
Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus,
Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.
Wir trauern mit allen,
die Leid tragen um die Toten und
teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der
Hoffnung auf Versöhnung unter den
Menschen und Völkern,
und unsere Verantwortung gilt dem
Frieden unter den Menschen zu Hause
und in der ganzen Welt.